Zahlen-Geilheit

Wir stehen auf Zahlen! Messen, vergleichen, Erfolge sehen. Wir = Ich und viele, die ich kenne! Doch weil ich mich selbst mit diesem Thema kritisch auseinandersetzen will, bleib ich einfach mal bei mir, um meine Erfahrungen, Motive und Gefühle etwas mehr wahrzunehmen. Hier der Versuch, ein paar aktuelle Gedanken zu diesem herausfordernden Thema schriftlich festzuhalten. 

Fünf Beobachtungen aus der Praxis zu Zahlen

  1. Und? Wie groß ist deine Gemeinde / Jugendgruppe? Kaum ein Gespräch mit anderen Christen oder Pastoren, die man neu kennen lernt, kommt ohne diese Frage aus. Zum einen natürlich, um ein Gefühl für den Gegenüber zu bekommen und in welchem Kontext er unterwegs ist. Zum anderen ist die Größe einer Gruppe oder Gemeinde immer der messbare Indikator für erfolgreiche Gemeindearbeit, für Wachstum, Erfolg und vielleicht Gottes Segen. Kaum ein Gespräch über eine Freizeit oder Jugendgottesdienst, bei dem nicht spätestens Frage drei lautet: „Und? Wie viele wart ihr?“ Manchmal nervt mich die Frage, weil hieran gefühlt oft allein der Wert der Veranstaltung festgemacht wird und der Inhalt und andere Faktoren schnell zweitrangig werden. Es wäre für jeden Jugendpastor keine große Herausforderung, seinen Gottesdienstbesuch um 100% oder mehr zu steigern, wenn er einfach nur Freibier ausschenken würde.
  2. Wer sind die gefragten Speaker auf den Kongressen oder Konferenzen? Oft sind es die Pastoren oder Leiter von großen Gemeinden, die große Mitglieder- oder Besucherzahlen vorzuweisen haben oder eine beeindruckende Wachstumsrate. Wo etwas wächst oder groß ist, geht man davon aus, dass die leitende Personen etwas zu sagen hat oder man etwas von ihr lernen kann. Oder wer hat schon mal eine solche Speaker-Beschreibung gelesen? „Herbert Rüdiger ist Senior-Pastor einer Kirche, die 67 Gottesdienstbesucher in Hintertupfingen erreicht.“
  3. Ob eine Gemeinde / Gruppe als groß oder klein bezeichnet wird, hängt vom Vergleichspunkt ab. Unsere Gemeinde zählt in unserem Gemeindebund in deutschen Verhältnissen zu einer der eher größeren Gemeinden. Gleichzeitig sind wir Teil eines Europäischen Netzwerkes, in welchem wir zu den kleinsten Gemeinden gehören, vielleicht sogar die kleinsten Gemeinde sind.
  4. Wer von seiner Gemeinde in Superlativen spricht, hat einen zu kleinen Horizont oder ein Ego-Problem. Zum Beispiel: „Wir sind die größte Baptisten-Gemeinde in Bundesland XY / Stadt / Region ….“ Je mehr Einschränkungen man hinzufügt, um so leichter wird es, „die größte Gemeinde“ in einer speziellen Denomination oder Region zu sein. Aber was bringt das? Außer, sein Ego zu streicheln? Immer, wenn Menschen hierbei von Superlativen sprechen, werde ich hellhörig. Vor allem, weil unsere Gemeindemitglieder-Zahlen in Deutschland nicht herausragend sind.
  5. Viele Gemeinden tun sich schwer mit Zielen, die messbare Zahlen beinhalten. Man fragt sich: Warum Methoden aus der Wirtschaft anwenden? Welchen Einfluss haben wir überhaupt auf die Zahlen? Werden Menschen dann nicht nur auf Zahlen reduziert? Und wenn bei einer Veranstaltung nicht das Besucher-Ziel erreicht wurde, kommt das Argument „Aber wir hatten ja eine gute Gemeinschaft.“

Drei Beobachtungen zu Zahlen im Neuen Testament

  1. Im Neuen Testament lesen wir bei Gemeinden extrem selten von absoluten Zahlen, wenn es darum geht, wie viele Menschen dazu kamen oder wie groß eine Gemeinde war. Eine Ausnahme bildet der Anfang der Gemeinde in Jerusalem (Start mit 120 Personen [Apg. 1,3], plus 3000 {Apg. 2,41], 5000 [Apg. 4,4]), welcher zu Beginn der Apostelgeschichte beschrieben wird. Nach der Christenverfolgung in Kapitel 8 finden sich, meines Wissens, keine weiteren Zahlen zur Größe einer Gemeinde der damaligen Zeit oder der Anzahl von Bekehrungen, Taufen oder Gottesdienstbesuchern.
  2. Im Neuen Testament finden wir aber an vielen Stellen das Bild vom Wachstum und Frucht bringen. Frucht und Wachstum werden zum Beispiel im „Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld“ (unter anderem in Markus 4,1-20) erwähnt. Hier steht etwas von 30fachem, 60fachem und 100fachem Wachstum. Und Johannes übermittelt uns die Aussage von Jesus: „Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“ (Johannes 15,5)
  3. In den Evangelien finden sich viele Geschichten, wie Jesus Wunder tat und predigte und wie das viele Menschen bewegte und anzog. Von konkreten Zahlen lesen wir selten! Eine Ausnahme ist das große Event der Speisung der 5000 Männer (+ Frauen und Kinder). Ansonsten lesen wir eher, dass Jesus viel Zeit mit seinem kleinen Kreis von zwölf Jüngern verbrachte und davon, wie er einmal 72 Jünger aussendet (Lukas 10,1). Insgesamt stehen demnach nicht die großen Massen und Zahlen im Vordergrund, sondern die liebevolle Zuwendung von Jesus zum Einzelnen.

Drei praktische Schritte, die mich gerade beschäftigen

  1. Mehr Mut zum Zählen und Gelassenheit in der Bewertung. Das heißt, genauer hinsehen, wahrnehmen was gerade passiert und Entwicklungen beobachten. Wie viele kommen zu einer Veranstaltung, einem Event? Wie wird ein Angebot angenommen? Ich mag den Spruch (Ich glaube, er stammt von einem Pastor.), der ungefähr so geht: „Es geht um Menschen, darum zählen wir Menschen!“ Gleichzeitig, hab Gelassenheit in der Bewertung! Nur, weil mehr Leute kommen, heißt es nicht, dass uns gerade etwas besser gelingt und nur, weil weniger kommen, heißt es nicht automatisch, dass die Entscheidung oder der eingeschlagene Weg falsch ist. Weniger Menschen heißt nicht automatisch, dass Gott nicht segnet.
  2. Mehr messbare Ziele in der Planung setzen. Ja, messbare Ziele sind in der Regel Zahlen und gehören zu jedem Ziel. Wie beim Klassiker der Zielsetzung, der Methode „SMART“. (S = Spezifisch, M=Messbar, A=Attraktiv, R=Realistisch, T=Terminiert) Als Pastor tue ich mich jedoch oft schwer damit, wenn ich Ziele im Gemeindekontext höre, wie z.B. „20 Bekehrungen“ oder „10 Taufen“ oder „Gemeindewachstum um 10%“ pro Jahr. Ich bleibe hier am Punkt „Realistisch“ hängen. Ja, ich glaube daran, dass Gott uns als Gemeinde in diesem Jahr noch eine Bekehrungswelle schenken kann, sogar noch größer als „geplant“. Die statistische Wahrscheinlichkeit unser Gemeinde ist, im Blick auf die Vergangenheit, nicht schlecht, sodass man eigentlich mit doppelt so vielen Taufen rechnen könnte. Der Punkt ist aber, dass ich letztendlich doch keinen Einfluss darauf habe, ob jemand sein Leben Jesus gibt und sich taufen lässt. Glaube ist ein Geschenk, welches wir nicht „machen“ können. Also, was sollen diese Ziele dann? Einen hilfreichen Gedanken dazu habe ich bei Craig Groschel gefunden, der zwischen INPUT und OUTPUT unterscheidet. Sein Fokus ist auf INPUT, also auf der Formulierung von Zielen, die z.B. Bekehrung fördern. Das könnte sein, verstärkt evangelistische Predigt-Reihen einbauen, Glaubensgrundkurse anbieten und diese stärker öffentlich bewerben, Freunde einladen, Brücken-Events veranstalten… und aus jedem dieser Ziele könnte man ein SMARTES ZIEL machen, denn hier können wir tatsächlich Einfluss nehmen. Welche Inputs, die wir geben, dann welchen Output hat, das hängt letzten Endes von Gott ab und wir können ihn nur im Gebet um Segen bitten. Also, leg den klaren Fokus auf den Input, auf Ziele, auf die wir wirklich Einfluss haben und dann lets go und lasst es uns probieren!
  3. Weniger meinen Wert und den von anderen als Pastor von Zahlen abhängig machen. Mehr Fokus auf Input-Ziele und dem genauen Hinschauen, Auswerten, Ausprobieren, aber gelassen sein bei allem, was Gott schenkt!

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